Montag, 11. Januar 2010

Norman, Alexander, Das geheime Leben der Dalai Lamas, Lübbe Verlag: Bergisch Gladbach 2007, Festband, SU, 477 S., ISBN 978-3-7857-2284-8, 19,95 €.


Der XIV. Dalai Lama, oberster Würdenträger des tibetischen Buddhismus (Vajrayana), bereist die Welt, ist auf meist medienwirksame Empfänge geladen und leitet Initiationen rund um den Globus. Er lebt im indischen Exil, da seine Heimat von den Chinesen besetzt gehalten wird. So könnte sicher ein jedem geläufiges Bild des berühmtesten Tibeters gezeichnet werden.
Zudem wurde jüngst bekannt, dass Tibet nach Willen der chinesischen Regierung weiter sinologisiert werden soll. So ist es künftig von der Legitimierung der Zentralregierung in Beijing abhängig, wer als Inkarnation eines buddhistischen Meisters (tulku) in Tibet anerkannt ist. Bestes Beispiel ist der aktuelle Panchen Lama, den es gleich zweimal gibt: Einer ist vom Dalai Lama anerkannt und steht irgendwo in China unter strengstem Hausarrest, während Beijing einen eigenen, chinatreuen Panchen Lama eingesetzt hat, den die Tibeter allerdings ablehnen. Dieses Verfahren wird in Zukunft wahrscheinlich Schule machen und könnte auch für den höchsten der tibetischen Lamas gelten, den Dalai Lama. Dieser lebt seit den 50er Jahren mit einem Großteil des tibetischen Volkes in Dharamsala (Indien), während die chinesische Ansicht, Tibet als unveräußerlichen Teil Chinas zu betrachten, immer seltener offiziell hinterfragt wird. Doch noch immer ist er der höchste tibetische Würdenträger in spirituellen und weltlichen Belangen.
Nun erschien ein Buch im Gustav Lübbe Verlag, in welchem die hierzulande weitestgehend unbekannte Geschichte der Institution des Dalai Lamas genauso anschaulich wie spannend erzählt wird.
Geschrieben hat es Alexander Norman, der buddhistische Philosophie studierte und den Dalai Lama 1988 kennen lernte, also ein Jahr bevor jener mit dem Friedensnobelpreis bedacht wurde. Mittlerweile verbindet Freundschaft die beiden. Als Ghostwriter wirkte Norman an den beiden Büchern „Das Buch der Freiheit“ und „Das Buch der Menschlichkeit“ mit und arbeitet nun am Department of Tibetan and Himalayan Studies der Universität Oxford. Zudem wurde er 2001 in das Dalai Lama´s Special Review Committee berufen.
Eingehend macht der Autor klar, dass der Geschichtsschreibung, wie sie im Abendland verstanden wird, eine andere Auffassung von Historiographie bei den Tibetern gegenübersteht. Demnach ist ein Ereignis, dass sich der historischen Prüfung entzieht, nicht zwangsläufig erfunden. Wie es Begebenheiten auf der materiellen Ebene gibt, so existieren, nicht nur, aber gerade in tibetischer Anschauung, ebensolche auf einer spirituellen Ebene. Beide werden als nicht voneinander getrennt gesehen, ähnlich wie in der schamanischen oder aber hermetischen Tradition unseres Kulturkreises. Diese Anschauung wirkt auf die meisten Menschen hier sowohl faszinierend, als auch fremdartig. Da der Autor sein Werk der wichtigsten Institution im tibetischen Buddhismus gewidmet hat, wird er dankenswerter Weise den dortigen Vorstellungen gerecht. Die Perspektive, die er wählt, ist die eines Außenseiters. So beschränkt er die verwendete Literatur auf die englischsprachigen Titel. Dennoch zieht er keine scharfe Trennung zwischen mythischen Erzählungen und historischen Darstellungen, beispielsweise wenn er die überlieferten Wunder der tibetischen Gottkönige schildert. Beides, tibetische Tradition und das, was nach zeitgenössischer westlicher Auffassung als wahr gilt, verwebt er gekonnt zu einem genauso lehrreichen wie unterhaltsamen Werk.
Die Institution des Dalai Lama als solche gibt es seit dem 14. Jahrhundert, wobei die ersten beiden in der Folge der Inkarnationen posthum als solche erkannt wurden. Erst der Dritte galt schon zu Lebzeiten als solcher. Verstanden wird dieser Würdenträger als eine Inkarnation des Gottes Chenrezig, der nach tibetischen Auffassung der Buddha der Barmherzigkeit ist. So erklärt sich der Begriff Gottkönig im Untertitel des vorliegenden Werkes. Zunächst heißt es aber ganz folgerichtig, sich mit der Vorstellung der Reinkarnation und der tibetischen Geschichte vertraut zu machen.
Mit der Einführung des Buddhismus in Tibet im 7. Jahrhundert begann auch die Verehrung dieses erleuchteten Wesens. Aber auch vor dieser Zeit sind bereits Inkarnationen des Chenrezig bekannt. Hier setzt der Autor an und schildert anschaulich die Reihe der (indischen) Wiedergeburten und die schwierige Durchsetzung des Buddhismus in Tibet. Dabei beschönigt Alexander Norman nichts. Neben den hohen religiösen Idealen kommt es von Anfang an innerhalb Tibets auch zu Auseinandersetzungen der verschiedenen Schulen und Lehrmeinungen, bis sich schließlich die Gelug-Schule durchsetzt, die über die Inkarnationsfolge der Dalai Lamas wacht. Zunächst ist das später entstandene Amt des Dalai Lamas als rein spirituelle Würde verstanden worden, bevor unter dem fünften Dalai Lama auch die politische Macht über Tibet dazu kam. Der Potala-Palast in Lhasa zeugt noch heute von der einstigen Pracht. Neben dem fünften ist es besonders der dreizehnte Dalai Lama, der als Herrscher über Religion und Politik bemerkenswert herausragt, wobei die Inkarnationsreihe auch weniger glückliche oder ambitionierte Potentaten aufweist. Gekonnt erzählt Norman deren Leben und Lebensbedingungen.
Dabei spielte das Land politisch meist eine tragische Rolle, ähnlich, wie das in der Gegenwart der Fall ist. Immer wieder wurden wechselnde Allianzen geschmiedet und lediglich die Abhängigkeiten veränderten sich. Ob von der Gnade der mongolischen Khans oder der der chinesischen Kaiser: Es gibt kaum einen Abschnitt tibetischer Geschichte, in denen das Land frei gewesen wäre. Mit leichter Feder zeichnet Norman die bewegte Geschichte Tibets durch die Jahrhunderte nach, wobei er den eigentlichen Gegenstand seines Werkes, den Dalai Lama, nie aus den Augen verliert.
Sicherlich kommen dabei auch weniger erfreuliche Aspekte zur Sprache: So ist beispielsweise die eingangs erwähnte Kontrolle der Inkarnationslinien keineswegs eine neue Erfindung der Chinesen, ganz im Gegenteil. Selbst einer der Dalai Lamas wendete sie als Druckmittel gegen missliebige Schulen an. Diesen Fakt kann natürlich nur werten, wer um die Wichtigkeit dieses Nachfolgesystems weiß. Auch das bietet dieses Buch: ein immer wieder berücksichtigende Darstellung anderer Würden und ihre Träger sowie Erläuterungen zu den verschiedenen Schulen des Vajrayana und deren Verhältnis zueinander.
Damit ergibt sich eine komplexe und kenntnisreiche Darstellung der höchsten Würde im tibetischen Buddhismus und derer kulturelle Einbindung, die in keiner Weise an die skurrile Ikonographie der Pop-Kultur anschließt und selbst unliebsame Ereignisse nicht verschweigt, was im Übrigen ganz im Sinne von Tenzin Gyatso ist, dem derzeit amtierenden XIV. Dalai Lama.
Alexander Norman ist es somit geglückt, eine erstaunliche Faktendichte aus tibetischer Religion und Geschichte sowie aus den Biographien der Lamas in einen sehr unterhaltsamen und hoch informativen Band über Tibet zu wandeln, der viel zum Verständnis der gegenwärtigen Situation der Tibeter beiträgt, ohne verkitschten Vorstellungen anzuhängen.
Das Buch ist mit Kartenmaterial, einer sehr brauchbaren Bibliographie und einem Sachwortregister ausgestattet, was den gezielten Zugriff auf den Text ungemein erleichtert.
Es ist eines dieser Werke, das längst überfällig war und deren Ende man bedauert.