Montag, 11. Januar 2010
Crowley, Aleister /Fuller, J.F.C., Die Pfadarbeiten von Aleister Crowley, Bohmeier Verlag: Leipzig 2003, 104 S., PB, ISBN 3-89094-388-8, 14,90 €.
1.
Hinter diesem Titel verbirgt sich die sorgfältig gemachte erste deutsche Gesamtausgabe von „Liber 963“ oder „Das Schatzhaus der Bilder“ von Captain J.F.C. Fuller, zu seiner Zeit Militärstratege, Musterschüler von Aleister Crowley und Mitarbeiter beim legendären „Equinox“. Dies ist ein seltenes, und damit wertvolles Buch. Es ist selten, weil es eine der wenigen Schriften ist, die im Kanon der thelemischen Literatur auftaucht, die nicht aus der Feder des Mstr. Therion stammt. Lassen Sie sich von dem Titel „Die Pfadarbeiten von Aleister Crowley“ nicht täuschen – die wenigen schlauen Worte, die er zu diesem Werk beigesteuert hat, passen alle auf eine Seite. Es erscheint einfach opportun, seine Involvierung hervorzukehren, wahrscheinlich weil der eigentliche Autor, nur dem eingefleischten Studenten der Tradition vertraut ist, das „Grosse Tier“ jedoch jedermann vertraut ist, der weiß, daß Magie nicht nur ein Kartenspiel ist.
Dies ist ein seltenes, und damit wertvolles Buch. Es ist selten, weil es vor allem ein Kunstwerk ist. Kunst! Ein Wort, das im Zusammenhang mit dem Okkulten nur noch zögerlich gebraucht wird, Zeugnis einer schleichenden Uminterpretierung des Magischen von einer kreativen Kulturleistung zu einer analytischen Technologieart oder archaischen Gestalttherapie. Dabei fiel die okkulte Renaissance der Jahrhundertwende (zum 20., nicht dem 21.!) gerade unter den Avantgardisten und Decadents des Kontinents auf fruchtbaren Boden – Initiierte schlossen Figuren wie den Schriftsteller Arthur Machen (ein erklärtes Vorbild von H.P. Lovecraft), Gustav Meyrinck, den Nobelpreisträger Yeats oder den renommierten Designer Albin Grau ein, aber auch andere Künstler, Professionelle und begabte Dilettanten. Ein Auge für Stil und Schönheit verband sich mit der Suche nach den ewigen Wahrheiten – in manchen Schriften wird Schönheit sogar als „offenbarte Wahrheit“ deklariert. In dieser Tradition stellt das „Schatzhaus der Bilder“ ein aussergewöhnliches Dokument dar.
Dies ist ein seltenes, und damit wertvolles Buch. Es ist wertvoll, weil es vor allem ein Kunstwerk ist. Man kann die im „Schatzhaus der Bilder“ gesammelten Texte als religiöse Prosagedichte beschreiben, oder mystische Meditationen über die verschiedenen Erscheinungsformen des Göttlichen. Im Genre der religiösen Literatur ist es ein Einzelfall, da es keinem spezifischen Pantheon verpflichtet ist, sondern seine Energie aus dem Symbolismus der Astrologie schöpft. Somit sind diese Texte universell verwendbar. Jeder Leser kann einen Bezug zu ihnen herstellen – via sein Geburtszeichen, oder auch einen spezifischen Charakterzug, den er auf meditative oder rituelle Weise zu erforschen wünscht. In der hier besprochenen Ausgabe sind einige modernere Texte beigefügt, die sich mit den Aspekten der Persönlichkeitsarbeit und Selbsterkenntnis mit Hilfe transpersonaler Techniken wie der Astrologie und dem Tarot befassen. Diese Texte bleiben jedoch seltsam trocken, vergleicht man sie mit den Hymnen des „Schatzhauses“ – sie sind bestenfalls technische Papiere, während die Bildwelt Cap. Fullers lebendig bleibt.
Die Energie und Gewissenhaftigkeit, mit der Fuller sein poetisches Konzept zu Ende geführt hat, kann man nur bewundern. Die Sprache ist blumig, ein Reigen von Verbildlichungen, lässt aber glücklicherweise die didaktische Lektion vermissen, die andere Kunst so oft verschandelt. Dies ist eine seltene Kunst, eine so umfangreiche Sammlung von Prosagedichten zu schaffen, die nicht belehren, sondern stattdessen nur illustrieren und aufzuzeigen vermögen. Sicherlich sind dies keine heiligen Schriften, dennoch scheint es fast ein wenig kleinlich, dass der Mstr. Therion dies Werk nur als eine Schrift der Klasse B klassifizierte, während er seine Miniaturvorbemerkung das Prädikat „A“ verlieh.
Der Unterschied zwischen „Kunst“ und Kunst, so schrieb der große Arthur Machen einmal, ist Ekstase. Captain Fuller war vor allem dies – ein Ekstatischer Dichter, ein Künstler mit Vision. Man kann ihn nicht wirklich innovativ nennen, aber er schaffte es für sich – und seine Leser – bestehende Symbole und Vorstellung zum Leben zu erwecken und somit den Schritt vom rein akademischen Wissen zum tieferen Verständnis zu meistern. Seine Ekstase wirkt auf den Leser immer noch inspirierend. Was kann man von einem Kunstwerk mehr erhoffen?
2.
Die deutsche Ausgabe von „Das Schatzhaus der Bilder“ ist eine sorgfältige 1:1 Übertragung der englischen Ausgabe von New Falcon Publications. Sie finden hier jeden Text, der in der englischen Ausgabe enthalten ist; wobei der englische Originaltext von Fullers Anrufungen auf den Seiten links der Übertragung abgedruckt wird. Man hat sich große Mühe gegeben, dem Original getreu zu werden; selbst die Seitenanzahl ist fast identisch. Und gerade darin liegt das Problem. Während die englische Ausgabe sich bei diesem Buch von der kruden und unansehnlichen Typographie gelöst hat, die die Publikationen dieses Hauses oft verschandelten, hat man es in der deutschen Ausgabe tatsächlich geschafft – vor allem durch die Benutzung eines kleineren Schriftgrösse und die Vermeidung von Abständen unter den Absätzen, die eine bessere Lesbarkeit unterstützen würden – ein Design von anspruchsloser Hässlichkeit zu kreieren. Dass das deutsche Format im Vergleich zum englischen noch einen cm breiter ist, verlängert vor allem die Zeilen, strapaziert die Lesbarkeit jedoch noch mehr.
Wie bereits erwähnt, wird das Wort „Kunst“ im Zusammenhang mit dem Okkulten nur noch zögerlich gebraucht. Vergleichen wir moderne Erzeugnisse aus diesem Genre mit Werken vor hundert Jahren, mit ihrer sorgfältigen Wahl von Type, Format, Papier und Farbe, sehen wir, daß es eine entscheidende Umorientierung gegeben haben muss – dabei sollte man nicht vergessen, daß Eleganz nicht automatisch ein Kontrollmechanismus der Medienmaschinerie ist und „krude“ nicht automatisch „authentisch“ impliziert. Ein gutes Beispiel ist die Umschlaggestaltung in diesem Falle: Während die englische Ausgabe schwarzen Text auf weißem Hintergrund über und unter eines Kreuzmotivs verwendet, wurde in der deutschen Ausgabe der ganze Text in schattiert hinterlegtem Grün auf einen dunkelroten Hintergrund (!) projiziert, während das Bildmotiv seitenbreit füllend vergrößert wurde, wodurch es vom unteren Teil der Seite zu rutschen scheint. Schrift und Bildmotiv wirken dadurch etwas schmuddelig, was dem Inhalt dieses Buches wenig angemessen ist. Zudem sollte jeder, der sich mit klassischen Themen der Magie befasst, wissen dass Komplementärkontraste (grün auf rot) im telesmatischen Bereich nur zur Anziehung marsischer Energien genutzt werden – womit ich mit der ärgerlichen Emphasis der letzten Zeilen nur zu gerne folgen will.
3.
Es ist immerhin mehr als lobenswert, wenn ein so seltenes und wertvolles, aber auch im kommerziellen Sinne „sperriges“ Buch in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Ein Lob auch dem deutschen Übersetzer, Herrn Mons, für die Mühe, die er aufgewendet hat, um die Atmosphäre und den lyrischen Impuls von Fullers Hymnen zu erhalten. Bei dem viktorianisch gefärbten Englisch der „Equinox“-Ära sicherlich keine leichte Aufgabe. Weitaus schlechtere Übersetzungen aus der „Crowleyanity“ fand man bisher nur an eher esoterischen Orten – so gab es vor vielen Jahrzehnten einmal einen partiellen Abdruck von „963“ in der „Oriflamme“ des Schweizer O.T.O./Illuminaten-Ordens. In einer Zeit der zunehmenden „Technologisierung des ID“ ist das „Schatzhaus der Bilder“ sicherlich eine angenehme Abwechslung, gerade weil es so klassizistisch (oder „retro“) ist.
Die Bildersprache der einzelnen Texte ist ebenfalls auch eine schöne Möglichkeit, Anwendungen kabbalistischen Symbolismus und der dazugehörigen “Schattensprache” zu studieren. Das offensichtliche Thema, das dem ganzen Buch zugrunde liegt, ist „Einheit“ – die Einheit Gottes und seiner Schöpfung. Dem hebräischen Wort für Einheit, achad, wird der Zahlenwert 13 zugeordnet, eine Zahl, die nicht ohne Bedeutung im kabbalistischen und thelemischen Kontext ist. „Liber 963“ kann als vollständiger Kommentar zu dieser Zahl begreifen werden: wenn man sich dem Volksaberglauben verschließt, wird man schnell erkennen, dass diese Zahl in Beziehung steht zur Sonne und den 12 Stationen ihrer jährlichen Wanderschaft. Der 13. Punkt ist die Nabe eines Rades mit zwölf Speichen – das Zentrum, die Axis, der Nullpunkt. Fast alle solaren Mythen können in diese Richtung interpretiert werden – selbst der Jesus der Evangelien, der stets umgeben ist vom Dutzend seiner Chelas.
Man kann in dieser Zahl die Welt der solaren Erscheinungen als Widerspiegelungen der zentralen unverrückbaren Wahrheit interpretieren – das holografische Universum des Wortes. Es ist daher durchaus angemessen, daß der Hauptteil von „Liber 963“ die zwölf zodiakalen Widerspiegelungen der Gottheit und ihre Zentrierung umfasst. Jede dieser 13 Meditationen umfasst wiederum 13 Verse, während das folgende Kapitel „Die Hundert und Neunundsechzig Ausrufe der Anbetung und die Einheit davon“ aus 13 x 13 Versen besteht. Selbst der technische Titel „Liber 963“ bezieht sich auf achad/13; diese Zahl erhält man, wenn man die einzelnen Buchstaben des Wortes achad vollständig ausschreibt (aleph, cheth & tav) und die Buchstaben dieser Wörter zueinander addiert. Alles ist aus der Einheit entstanden und ist in der Einheit eingeschlossen. „Deswegen ist es Ein Ganzes, und nicht zwei halbe; und Eins zu sein ist Dreizehn, welche Nichts genannt wird, da sie Alles ist.“ Dies mag den Mathematiker vielleicht nicht überzeugen, auf einer tieferen Ebene aber jeden, der sich mit der Welt der Erscheinungen nicht aus reinem Selbstzweck beschäftigt, sondern weil in ihr eine Widerspiegelung der zentralen diamantenen Wahrheit enthalten ist, welche Nichts genannt wird, da sie Alles ist. Aum. Ha.
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