Sonntag, 3. Januar 2010
Goodman, Felicitas D., Anneliese Michel und ihre Dämonen, Christiana Verlag: Stein am Rhein 5. Aufl. 2006, 368 S., PB, ISBN 3-7171-0781-X,
23,00 €.
Mit dem Ort Klingenberg verbindet sich der spektakulärste Fall eines Exorzismus in der jüngeren deutschen Geschichte. Am 1. Juli 1976 starb hier die Pädagogikstudentin Anneliese Michel, nachdem sie über Jahre hinweg von Teufeln erst belästigt und später besessen wurde.
An diesem Fall scheiden sich bis heute die Geister. Die Debatte außerhalb der Kirche, in erster Linie in der Presse geführt, disqualifizierte den Fall als Rudiment mittelalterlicher Glaubensanschauung und -praxis und auch innerhalb der katholischen Kirche regten sich die vielen Stimmen, die den Teufel und seine Dämonen lieber als blutleere Metaphern für das Böse in der Welt sehen wollen. Eine wie auch immer geartete geistige Dimension, eine wesenhafte Eigenständigkeit des sogenannten Bösen wird damit ausgeschlossen und Fälle wie der der Anneliese Michel passen einfach nicht in ein solches Konzept. Somit wurden die Protagonisten ob ihres Erlebens lächerlich gemacht, ihr Verhalten pathologisiert und zudem gerichtlich verurteilt.
Die Anthropologin und Autorin des vorliegenden Werkes, Felicitas Goodman, die ihr Forschungsgebiet als Transkulturelle Religionspsychologie beschreibt, wurde über die Presse in Amerika mit dem Fall bekannt. Nachdem sie sich die verfügbaren Artikel beschafft hatte, beschloss sie, sich mit den Beteiligten dieses Falles in Verbindung zu setzen und in der Folge ihrer eigenen Explorationen ein Buch über Anneliese Michel und Klingenberg zu schreiben. Neben den Tonbandprotokollen der exorzistischen Sitzungen und den umfangreichen Gerichtsakten konnte sie die Familie und die beteiligten Exorzisten dazu bringen, nach dem für sie frustran verlaufenden Prozess durch ihre Briefe und den darin enthaltenen Aussagen mitzuwirken. Bezeichnenderweise waren die beteiligten Ärzte und Psychiater wesentlich weniger auskunftsfreudig. Die Akademiker in den Kliniken schneiden auch nicht besonders gut ab in diesem Fall, bestechen sie doch am ehesten durch Ratlosigkeit, obsessiven EEG- und Psychopharmaka- Einsatz.
Das ganze verfügbare Material ist ausgezeichnet lesbar aufbereitet und die Basis der Untersuchung. Diese liest sich dann sehr viel anders, als die Gutachten der zum Gericht bestellten «Fachleute». Diese einigten sich im Prozessverlauf schnell darauf, dass eine Epilepsie und in der Folge eine psychotische Störung vorgelegen haben müsse und Anneliese Michel verhungert wäre. Vieles in der Geschichte um Anneliese Michel spricht gegen diese beiden Annahmen und für eine Einwohnung aus der geistigen Welt.
Wenn man bedenkt, dass man in Mitteleuropa nicht so häufig spontan von Ogun Besessene findet, sich aber die Situation durchaus ändern könnte, wenn man sich auf Yoruba-Gebiet im Mittelbenin befindet, sollte auch die Geschichte von Anneliese Michel in ihrem religiösen Kontext differenziert betrachtet werden. Das Mädchen entstammte einem streng katholischen Elternhaus und die Möglichkeit der Besessenheit von unreinen Geistern zählt zu den ältesten christlichen Glaubens- und Erfahrungsgewissheiten. Gerade aber der letzte Aspekt, der der Erfahrung durfte in Klingenberg wohl nicht eingestanden sein. Aber was hat dann Jesus in den Schilderungen der Evangelisten gemacht und wozu gibt es in Rom einen "Chefexorzisten" und Weihen für antidämonisches Agieren?
These von Goodman ist, entgegen dem Urteil, zu dem ein voreingenommenes und lustloses Gericht kam, dass es sich im Fall von Anneliese Michel durchaus um Besessenheit gehandelt habe. Entgegen dem mitteleuropäischen Erleben zählen in anderen Teilen der Welt Besessenheiten zum religiösen Alltag, der fast häufig erfahren werden kann. Das kann wohltuend oder auch weniger angenehm sein. Goodman führt dabei Stimmanalysen zu Felde, in denen sie die Stimme der Michel während der Sitzungen mit denen anderer Stimmaufnahmen von Besessenen vergleicht. Dabei werden gleiche Stimm- und Modulationsmuster augenfällig. Weitere ungeklärte Merkwürdigkeit sind die penetranten Gerüche, die sich um die Besessene während des bedrängenden Geschehens ausbreiten konnten. Dabei kamen der Autorin ihre vorherigen Forschungen zugute, in denen sie sich kulturübergreifend mit religiösen Ausnahmezuständen befasste.
Zudem hatte Anneliese Michel zwischen den Phasen der Belästigungen durch die Teufel immer wieder auch Erscheinungen, in denen ihr bedeutet wurde, dass es sich bei ihrer Besessenheit um ein Sühneopfer handelt, mit dem sie dazu beiträgt, Unrecht und Sünden auf dieser Welt abzumildern und anderen bei ihrer Erlösung zu helfen. Auch das ist nicht unbekannt. Ähnliches zählt beispielsweise auch zu den Aufgaben der Schamanen, nur dass in deren Fall die Besessenheit eine kontrollierte ist.
Schlussendlich konstatiert die Autorin nach all ihren Studien zu diesem Fall, dass Anneliese Michel weder Opfer der Besessenheit geworden ist (derartige Fälle sind in der Katholika nicht bekannt) noch dass sie verhungert ist (hier fehlen spezifische Symptome), sondern: Anneliese Michel wurde kontinuierlich mit hochdosierten nebenwirkungsreichen Psychopharmaka vergiftet. Zu dieser Annahme kommt die Autorin durch verschiedene Anzeichen, die als typische Nebenwirkungen bekannt sind. Auf den Prozessverlauf hatte dieses Gutachten keinen Einfluss mehr. Es kann aber dafür sorgen, dass die bornierte Ausschließlichkeit rationaler Urteilsfindung in diesem Fall infrage gestellt wird und die beteiligten "Mittelalterlichen" zumindest graduell rehabilitiert sind.
Auch die nunmehr fünfte Auflage des vielgelesenen Buches zeigt, dass der Fall Klingenberg noch immer brisant und nicht abgeschlossen ist.