Sonntag, 30. Mai 2010

Kakar, Sudhir, Schamanen, Mystiker und Ärzte, C. H. Beck Verlag: München 2006, Paperback,
344 S., ISBN 3-406-55059-2, 14,90 €.


Sudhir Kakar ist in diesem Werk, wie auch in anderen aus seiner Feder, als Wanderer zwischen den Kulturen unterwegs. Der indische Autor ist nachfreudianischer Psychoanalytiker mit Ausbildung im Westen, der nach seinen Lehr- und Forschungsjahren in seine Heimat zurückkehrte, wo er in Goa als Schriftsteller arbeitet und eine psychoanalytische Praxis unterhält. Das nun überarbeitete und als Taschenbuch erhältliche Werk erscheint bereits seit 1982 in verschiedenen Ausgaben, wobei der Text bis heute hochaktuell geblieben ist. Ein Klassiker.
In erster Linie geht es, wie der Titel verrät, um die Erkundung von Heilmethoden, mit denen in Indien psychische Erkrankungen geheilt werden. In einem weiteren Schritt erfolg dann jeweils die Kontrastierung psychoanalytischer Erkenntnisse und Herangehensweisen mit denen der indischen Heiler muslimischen oder hinduistischen Hintergrunds. Und dabei ist immer im Fokus: die Frage der Übersetzung und die nach der Wirksamkeit im spezifischen Kontext. Und das macht nur eine der großen Stärken des Buches aus.
Drei Ansätze verfolgt Kakar: den deskriptiven, den komparativen sowie die Herausarbeitung einer „Kulturpsychologie“, die den Zugriff auf das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft/ Kultur ermöglicht. Dabei wird schnell klar, dass in Indien der einheimische Heiler durchaus wirksamer agieren kann als ein westlich geschulter Analytiker.
Den Großteil des Werkes nehmen demzufolge weitläufige aber kurzweilige Fallstudien und Beschreibungen der therapeutischen Vorgehensweisen unterschiedlichster Heiler ein: die pir der muslimischen unani-Tradition, die Lamas der Tibeter, die bhagat der Oraon und die vaid des Ayurveda sind nur einige, denen intensiv über die Schulter geschaut wird. An jede der ausführlichen Beobachtungen schließt sich eine vorsichtige und gleichermaßen wertschätzende psychoanalytische Deutung an.
Zudem arbeitet Kakar die Gemeinsamkeiten der verschiedenartigsten Heiltraditionen Indiens heraus. Augenfällig wird dabei die Berücksichtigung und Fokussierung der heiligen Welt mit einem dezidiert elaborierten System feinstofflicher Wesen, die für das menschliche Wohl und Wehe verantwortlich sind. Diese bhutas finden sich in vielen lokalen Traditionen sowie in den Heilungsansätzen der Tantriks. Dabei werden die wichtigsten Bestandteile des letztgenannten Systems (bija, mantra, sadhana) ebenso unterhaltsam wie kenntnisreich im Nebenlauf vermittelt.
Eines aus einer Vielzahl von Beispielen für Kakars Deutungen geht von der Beobachtung der praktischen exorzierenden Arbeit eines Tantriks aus. Diese findet in der dramatischen Erfahrungswelt eines von Geistern geprägten Kampfes zwischen den kosmischen Mächten des Guten und des Bösen in der Seele des Patienten statt: die Übersetzung in einen Konflikt zwischen biologisch fundierten Triebregungen und psychologischer Abwehr wäre in diesem Falle der Deutungsvorschlag. Diese psychoanalytischen Interpretationen fließen wohlkomponiert in die Beobachtungen ein, beanspruchen aber gleichzeitig in keinem Fall, allein gültig zu sein.
Ausführliche Zuwendung erfahren ferner verschiedene Stränge der mythischen Tradition in Indien. Dabei kritisiert Kakar eingehend das psychoanalytische Deutungsmuster der Mystik, die dieses Erleben zumeist in psychopathologischen Kategorien beschreibt. Die damit verbundene Weigerung der Analyse, sich auf die mystischen Modelle des Menschen einzulassen, bringt gerade bei der Betrachtung indischer Gegebenheiten Schwierigkeiten mit sich, da diese Vorstellungen hier identitätskonstruierend ist.
So beschreibt der Autor sein Erleben mit dem Radha-Soami-Satsang und deren Praxis des surat shabd-yoga einerseits, andererseits die Schule von Mataji, in der Heilen als wichtigstes Nebenprodukt der Selbstverwirklichung angesehen wird. Basis der Therapie ist bei letztgenannter das Chakrasystem, in dass der Autor fundiert einführt.
Neben den lokalen und mystischen Traditionen steht ein dritter Bereich: der medizinische. Herausragend ist hier das Ayurveda, wobei Kakar feststellen kann, dass es in dieser Tradition keine isolierten Therapien psychischer Erkrankungen gibt. Derartige Spezialisierungen konnten sich bei der ganzheitlichen Herangehensweise nicht ausbilden; dahingegen sind somatische Therapien wie diätetische verbreitet.
Damit findet sich ein wichtiger Hinweis, der direkt zu einem der wohl augenscheinlichsten Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Therapie führt: das Leib-Seele-Problem als Grundlage von Heilungsansätzen. Während im Westen der Parallelismus so gut wie ausgestorben und der Interaktionismus die vorherrschende Auffassung ist, begreifen indische Heiler Psyche und Soma als ident, lediglich der Modus divergiert. Neben den zahlreichen Unterscheiden bestehen aber auch Gemeinsamkeiten. Grundlage in beiden Kulturen ist und bleibt die Suche, seelische Inhalte und Strukturen zu entdecken sowie nach Möglichkeiten zu forschen, diese zu verwandeln.
Bereits Claude Lévi-Strauss formulierte eine Parallele zwischen Schamanismus und Psychoanalyse. Letztere heile demnach den Patienten von einem individuellen Mythos, während in erstgenanntem Zusammenhang der soziale Mythos kollektiver Tradition übernommen wird und der Patient über diesen geheilt wird. Kakar geht nun darüber hinaus. Eine strikte Trennung, wie sie Lévi-Strauss vorschlug, könne er im Ergebnis nicht verifizieren. Eher scheint es so zu sein, dass in beiden Verfahren sowohl individuelle als auch soziale Mythen benutzt werden, obwohl in der Psychoanalyse der soziale Mythos (Menschenbild der westlichen Welt mit Individualität, Willensfreiheit etc.) eher implizit vorhanden ist und verdeckt bleibt. Die heilerischen Traditionen Indiens hingegen stellen das Individuum und sein Erleben in einen sinnvollen traditionellen Kontext, in dem die Probleme dann ventiliert und ausagiert werden können. Vielleicht ist gerade dieses heilerische Zusammenspiel von Mythos (sozial und religiös) und Individualität einer der Gründe, weswegen sich östliche Therapien im Westen zunehmend großer Beliebtheit erfreuen. Aber das muss im Bedarfsfall jede/r selbst entscheiden.
Und am Ende dieses großen Werkes heißt es dann auch von Seiten des Autors: Alle medizinischen Ansätze sind relativ. Bravo.