Sonntag, 30. Mai 2010
Golowin, Sergius, Die Magie der verbotenen Märchen, Merlin Verlag: Gifkendorf 9. Aufl. 2004, Paperback, 240 S., ISBN 3-87536-179-2, 13,90 €.
Sergius Golowin hat sicherlich das Interesse von mehr als einem für den Tarot, die Weisen Frauen und viele andere Aspekte (mittel)europäischer Kultur geweckt, und so ist es immer wieder eine Freude, von ihm zu lesen. Eine Neuauflage eines seiner Bücher gibt Gelegenheit, auf die von ihm bearbeiteten Themengebiete wieder einmal aufmerksam zu machen. Die Menschlichkeit und Humor, mit dem er schreibt, sind dabei sicherlich ebenso wichtig wie die Art und Weise, wie er sich den Themen seines Interesses annähert. Er ist einer der wenigen Autoren, die es schaffen, trotz einer Menge geschichtlicher Fakten, ihre Leser nicht zu überfordern, sondern ihren Text immer lesbar fortzuspinnen; ein Gefühl für die Kompaktheit und Vielschichtigkeit eines Themas erzeugen können ohne sich auf irgendeine schräge Theorie zu versteifen; und vor allem nicht die vielbegangenen Wege gehen, sondern viel lieber in mündlichen Überlieferungen und dem Sagen- und Geschichtsgut von Fahrendem Volk und der Bewohner abgelegener Gegenden forschen. Sachbücher von Sergius Golowin haben deshalb für mich immer einen ganz eigenen „Stil“, ja Geschmack, vor allem befassen sie sich aber mit Aspekten „magischen“ Lebens auf eine Weise, die zwar wissenschaftlich und unaufdringlich, aber gerade deshalb viel überzeugender als so manche Schall und Rauch versprühende New-Age-Klamotte sind.
Die Magie der verbotenen Märchen ist ein gutes Beispiel dafür. Schritt für Schritt entwickelt sich das Bild einer europäischen Vergangenheit, die doch ganz anders war, als man sich für gewöhnlich vorstellen mag. Eine Vergangenheit, in der heidnische und volkstümliche Brauchtum des Altertums in Ecken und Hinterhöfen des Alltags immer noch lebendig und fest im Bewußtsein und Fühlen der Menschen verwurzelt waren.
Sergius Golowin weist anhand der Märchen, die ja besonders altertümlich und über Generationen relativ unverändert Abbilder einer volkstümlichen (aber schriftarmen) Kultur zu transportieren verstanden, das Vorhandensein eines bis in die frühe Neuzeit existenten „Kultur-Untergrundes“ nach, in dem der Genuß von Naturdrogen (z.B. Hanf, Bilsenkraut, Stechapfel usw.) mit der Existenz schamanischen und magischen Brauchtumes Hand in Hand ging, ja, er versteht es sogar, die in vielen Märchen vorhandenen Anspielungen auf psychedelische Substanzen und Erfahrungen zu entschlüsseln. Dies tut er durch eigene Gedanken, Verknüpfung von parallelen Bildern und immer wieder durch interessante Zitate aus ungebräuchlichen botanischen, völkerkundlichen und mythologischen Quellen.
Der im Märchen verschlüsselte Kultur-Untergrund schlägt auch eine Brücke vom Hexentum („Die grüne Farbe war im Hexenwesen beliebt, der Teufel, meist grüngekleidet, heißt in den Sagen Grünrock.“) zu den Einweihungsclubs, die im l8. Jahrhundert die Rolle dieses Untergrundes langsam übernahmen. („Im Rauch Ihrer Pfeifen“ schrieb auch Eliphas Levi von den Menschen um die deutschen Illuminaten (...) sahen sie „tausend unsagbare Dinge, die sie in die Wunder des Jenseits einweihten.“)
Hie wie dort war der Konsum bestimmter bewusstseinsverändernder Substanzen eine soziale Institution, religiös und mystisch geprägt, auf Erkenntnis ausgerichtet, nicht auf ein „Erlebnis“. Diese Art der „Chemognosis“ sollte man nicht mit dem Mißbrauch usnerer Zeit verwechseln, eben so wenig wie die Peyote-Rituale der amerikanischen Ureinwohner mit den LSD-Orgien sogenannter Hippies. Vor der Einführung des Gin in Amerika gab es dort eben so wenig ein Alkoholproblem wie in Europa ein Drogenproblem vor der von den imperialistischen Staaten erzwungenen Massenproduktion von Opium in China oder der Synthese neuartiger Rauschgifte durch angesehene Pharmazeuten wie Hoechst und Bayer.
Inspiration ist oft genug der Kontakt zweier Schichten der Realität, von denen wir die eine „Realität“ oder „Diesseits“ oder „Hier&Jetzt“, das andere „Andere Welt“, „Dort Drüben“ oder „Jenseits“ nennen. Die Kulturen des Altertums haben diese daraus gewonnen Vorstellungen in sogenannten TOTENBÜCHERN niedergeschrieben, Berichte der Reisen eines „Verstorbenen“ durch das Jenseits. Diese „Andere Welt“ hat viele Namen, vom ägyptischen Amenti zu der endlosen Reihe keltischer Jenseitsländer, deren letztes Avalon ist, trotz aller kulturellen Unterschiede sind sie sich ähnlich als in phantastischem Ausmaße verzerrten Landschaft, in der jedes Detail und jede „Person“, der man begegnet, mythische Proportionen annimmt. Diese Phantasiereiche sind symbolscapes -“Symbollandschaften“ - in denen unter einer scheinbar einfachen und irgendwie „vertrauten“ Oberfläche tiefsinnige Botschaften auszugraben sind.
Jede Kultur kann ein oder mehrere dieser „Totenbücher“ aufweisen, in denen die spirituellen Erfahrungen ihres Kulturkreises in bildhafter Sprache nachvollziehbar sind. Die tibetanische, ägyptische, inkanische Seele spricht aus den Totenbüchern ihrer Priester, in Europa sind es vor allem die erst spät in der Geschichte von der Wissenschaft gesammelten Märchen, in denen das ganze Spektrum kultureller und spiritueller Inspirationen Gestalt angenommen hat. Für die Einsicht in Märchen als die „Totenbücher“ der europäischen Kulturen sprechen auch die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen bestimmter Erkenntnisse und Bilder in den Märchen weit auseinanderliegender Völker, wie sie Volkskundler und Sagensammler nachweisen konnten.
Die DEUTSCHEN TOTENBÜCHER sind voll von erschreckenden Geschichten und echten Wundern, von der Bedrohung der Gemeinschaft und des Ichs durch unbalancierte Begierden und die Verwandlungen, die ein solcher Makel im Menschen hervorrufen kann, aber auch, wie solche Transformationen siegreich überwunden werden können. Die DEUTSCHEN TOTENBÜCHER berichten in erstaunlichen Parallelen über das von Völkerkundlern wiederentdeckte magische Brauchtum der deutschen Stämme. Während die Völkerkundler uns heute wieder die Rezepturen von Hexendrogen und Feenkräutern wiederentdecken helfen, berichten die DEUTSCHEN TOTENBÜCHER anschaulich von ihren Wirkungen. Für gewöhnlich nehmen sie die Gestalt solcher aus der Kindheit bekannten und vorsichtigen Erziehern um alles Heidnische gereinigten Leineneinbände wie GRIMM’S MÄRCHEN an.
Geht man einmal im Sprachgebrauch der deutschen Völker zurück, so wird man sehen, daß sich hinter den so scheinbar harmlosen „Äpfeln“ und „Rüben“, von derer man sich bei vieler der Transformationen in den Märchen bedient, viel Tiefgründigeres verbirgt. Tatsächlich können mit diesen Wörtern auch eine Reihe von Pflanzen gemeint sein, die vor der Einführung des Branntweines und des exzessiven Hanf- und Opiumimportes die privaten und rituellen Genußdrogen Europas waren: Bilsenkraut, Tollkirsche (Belladonna), Mandragora, Eisenhut oder Stechapfel - die allesamt exzitatorische oder halluzinogene Substanzen enthalten und heutzutage in in gleichem Maße als „Gift“ und „Unkraut“ gebrandmarkt werden wie einst Kräutersammlerinnen als „Hexen.“ Man kann viele dieser Märchen (englisch „fairy-tales“ - Feengeschichten oder Geschichten aus Feenland, Faerie) also auch als Protokolle über die Einsichten verstehen, die aus den Tiefen einer „Fairy-Pipe“, einer vorgeschichtlichen Kräuterpfeife gewonnen wurden, in denen der Feenlandreisende „Wildes Kraut“ verbrannte. In diesem Zusammenhang offenbart sich die „Andere Welt“, Feenland, das „Jenseits“ nicht als das Land der Toten, sondern als eine mythische Realität, eine Formwerdung des kollektiv Unbewußten und seiner archetypischen Symbolgestalten, die als Essenz der Menschheitserfahrung jenseits von Raum und Zeit weiterexistieren und für den Eingeweihten erreichbar bleiben.
Feenland lebt weiter. Es ist für jeden zugänglich, der in das Kontinuum menschlicher Vorstellungskraft Eingang findet, wo Innere und Kosmische Wahrheiten in Allegorien und mythopoetischen Transformationsprozessen dargestellt werden. Die so gewonnen Geschichten, Märchen, Phantastereien sind nicht unzusammenhängende Metapherngeflechte, sondern Reiseberichte aus Ländern jenseits des Alltags, unter der Haut der Realität. Die „Tote Seele“, der Reisende der Totenbücher ist nichts anderes als derjenige, dessen Seele dieses Reich der Realität verlassen hat und sich auf Wanderschaft durch das Multiversum begibt.
Labels:
Ethnobotanik,
Magie,
Märchen,
Merlin Verlag,
Mythologie,
Sergius Golowin