Freitag, 10. September 2010
Vidal-Naquet, Pierre: Atlantis. Geschichte eines Traums, C.H.Beck: München 2006, 216 S., Festband, SU, ISBN 3-406-54372-3, 19,90 €.
Atlantis, dieses sagenumwobene Land, ist nun seit fast 2500 Jahren immer wieder ein Thema und kann sicherlich auf ganz unterschiedliche Art und Weise gesehen werden. Man kann es den geistigen Reichen, der Imagination entsprungen, zuordnen und untersuchen, welcher Gehalt und welches Versprechen dem Land zugeschrieben werden.
Ähnlich geht der Autor, Pierre Vidal-Naquet, vor. Selbst zählt er zu den ganz Großen der französischen Geschichtsschreibung und nach eigenen Aussagen liegt sein liebhaberisches Augenmerk bereits seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder auf Atlantis. Wie der Untertitel seines nun erschienenen Buches suggeriert, ist bei ihm eine materielle Existenz von Atlantis von Vornherein ausgeschlossen. Dass das nicht bei allen Autoren der Fall ist, auch davon handelt dieses Buch.
Vidal-Naquet bevorzugt eine geistesgeschichtliche Betrachtung dessen, was er als das „Atlantis-Syndrom“ tituliert.
Ausgegangen wird, wie sollte es anders sein, von den platonischen Dialogen Timaios und Kritias. In diesen fungiert Atlantis als negative Utopie im Gegensatz zu einem idealen Ur-Athen. Dabei soll, so eine der Thesen des Buches, der Krieg des Ur-Athen gegen Atlantis den Schilderungen des Herodot nachempfunden sein. Auch erwähnte Letztgenannter die Atlanter schon als Volk westlich der Maghreb-Region. Bei der Untersuchung des platonischen Atlantis kommt Vidal-Naquet also zu der Anschauung, dass das Atlantis auf Athen bezogen ist. Die These, die der Autor selbst vertritt, formulierte bereits Guiseppe Bartoli 1779, der den Mythos in einer politischen Dimension deutete. Beim platonischen Atlantis handele es sich dabei um das maritime imperialistische Athen zur Zeit der Peloponnesischen Kriegen, welches mit einem idealen Ur-Athen kontrastiert wird. Dass damit die Geschichte um Atlantis noch lange nicht abgeschlossen ist, weiß jeder, der sich mit diesem Mythos einmal beschäftigt hat. Im Laufe der Jahre von Platons Schöpfung bis zum heutigen Tag wurden immer wieder Vereinnahmungen vor- und Versuche unternommen, Atlantis zu lokalisieren.
Viele Gelehrte, unter ihnen einige Archäologen, vertraten die Meinung, Atlantis gefunden zu haben. So wurde es von dem griechischen Ausgräber Spyridon Marinatos mit der Insel Santorin gleichgesetzt, von Eberhard Zangger mit Troia und von K. T. Frost mit dem minoischen Kreta (1900 durch Athur Evans ausgegraben). Die beiden griechischen Thesen (Marinatos und Frost) werden gelegentlich in eins gefasst, etwa wenn ein Vulkanausbruch auf Santorin für den Untergang der minoischen Kultur verantwortlich gemacht wird.
Athanasius Kircher wiederum hielt die Kanarischen Inseln für die Reste von Atlantis und Voltaire die Insel Madeira.
Daneben gibt es den Vorschlag von Jaques Collina-Girard, der die These vertrat, dass Platons Atlantis auf der Inspiration eines Archipels westlich der Straße von Gibraltar fußt, welches in der letzten Periode der Eiszeit versunken wäre, eine 14 mal 5 Kilometer große Insel mit zahlreichen Satelliten.
Zuvor wurde Atlantis mit Palästina gleichgesetzt (Jaques-Julien Bonnard, 1786) und mit nationalistischer Intention von Spaniern zur Zeit der Entdeckung und Eroberung Amerikas mit Mexiko. Aber nicht nur die Spanier waren zeitweise bemüht, Atlantis ihrem Territorium zuzuschlagen. Kurios sicher auch die Schriften von Olof Rudbeck, der das mythische Land nach Schweden verlegte. Zwei britische, eine irische und eine deutsche Version sind ebenfalls in diesem schmalen Band aufgeführt; letztere macht Helgoland zur atlantischen Hauptstadt und Jesus zum Atlantier.
Dass die ursprünglich negative Utopie Platons dabei längst einer positiven gewichen war, versteht sich hierbei von selbst.
In diesem Buch dokumentiert und kritisiert Vidal-Naquet neben den unterschiedlichen archäologischen Ergebnissen die verschiedensten Vorstellungen, die mit Atlantis verbunden wurden und werden. Gerade die dokumentierende Perspektive macht die Bedeutung dieses mythischen Landes als Projektionsfläche für die verschiedensten Ideen sehr deutlich.
Dabei könnte diese Arbeit noch um ein vielfaches erweitert werden, da die Imaginationen der okkulten Geistesgeschichte, etwa aus theosophischer Tradition, leider weitestgehend unberücksichtigt geblieben sind. Lediglich Fabre d´Olivet steht für die erklärt okkulte Deutung von Atlantis.
Vidal-Naquet hat damit ein äußerst informatives Buch zum Thema geschrieben, sehr gut lesbar und welches sich gut als Anregung zu vertiefender Lektüre anbietet. Von diesem schmalen Band ausgehend oder ihn berücksichtigend könnten sowohl weitere wissenschaftliche Untersuchungen als auch phantastische Schöpfungen erfolgen. Denn erschöpft ist das Thema Atlantis sicher noch nicht.
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