Mittwoch, 8. September 2010

Strohm, Harald, Über den Ursprung der Religion, München: Wilhelm Fink Verlag 2003, Paperback, 328 S., ISBN 3-7705-3795-5; 29,90 €.


Der Autor, dessen Arbeitsgebiete die Philosophie und die Religionspsychologie sind, legt hier ein Werk vor, das sich mit der psychologischen Interpretation der frühesten Textzeugnisse der Religionsgeschichte befasst. Über den Ursprung der Religion geht von der Beobachtung aus, dass sich diese frühen Texte oft erstaunlich ähneln; die Götter und Helden habe fast identische Abenteuer zu bestehen: Höhlen müssen aufgebrochen, Drachen getötet und Himmel und Erde auseinander gestemmt werden, Land wird begrünt und bevölkert.
Basis der Untersuchung sind die Kultlieder des Rig-Veda, die mit einem Alter von ca. 3500 Jahren den Schöpfungsmythen zuzuschlagen sind, im Gegensatz zu den später die Mythologie dominierenden Erlösungsdramen von Soteriologie und Eschatologie. Die Erzählungen, die vor dem religiösen Umbruch der Achsenzeit entstanden sind, sind zentral in diesem Buch.
Die Arbeitsthese, die Strohm dann anhand des Rig-Veda und unter Einbeziehung vergleichbarer Mythen zu belegen sucht, ist, dass die jeweils geschilderte Schöpfung nicht als physikalisches Phänomen verstanden werden muss, sondern als psychologisches, also intim menschliches.
Während schon Freud und zuletzt Norbert Bischof in dessen Spuren diese frühen Mythen als Inszenierungen kindlicher Dramen interpretierten, diese allerdings in eine recht späte Phase der Entwicklung verorteten, geht Strohm davon aus, dass die Schilderungen eine frühere Phase des menschlichen Werdens abbilden. Nach ihm handeln die Mythen von der Lebensspanne zwischen Geburt und ungefähr dem Ende des zweiten Lebensjahres.
So lässt sich das Rig-Veda als Geschichte des kindlichen Eroberns der Welt in den ersten Lebensjahren lesen, was Strohm, indem er Verse des Epos immer wieder den Erkenntnissen von moderner Säuglings- und Kleinkindpsychologie gegenüber stellt, amüsant und mit leichter Feder aufzeigt. Dabei scheint der Autor besonders den Arbeiten von Paul Thieme zum Rig-Veda und Daniel N. Stern zur Säuglingspsychologie verpflichtet zu sein.
So werden beispielsweise die Schätze, funkelndes Gold und Juwelen, die im Schöpfungsbericht nach dem Aufbrechen der Höhle in dieser sichtbar werden, zum beredten Zeugnis des Erwerbs optischer Wahrnehmung. Der Dunkelheit entronnen konturiert sich die Welt als glänzender, fast unfassbarer Schatz. Es handelt sich also um eine Schilderung direkten kindlichen Handelns und Erlebens; die Schätze sind diesseitig und stehen am Anfang der Entwicklung; sie sind noch nicht als kommende Verheißung in ein Jenseits verbannt, wie in späteren Erlösungsmythen.
Die Welt von Indra, Yama, Visnu und Agni, von denen das Buch in erster Linie handelt, stellt sich dar als eine magisch-frühkindliche Welt, in der Standunsicherheit und geringe Körpergröße erfahren werden und visuelle Wahrnehmung und Sprache noch erlernt werden. Demzufolge ist dieser Kosmos bevölkert von Zwergen, Lahmen und die Berge wackeln noch. Milch und Honig sind die Leibspeisen der göttlichen Kleinen und mit dem Dreirad wird zur Hochzeit gefahren. Quelle und Adressat der einstigen Schöpfungsberichte sind die seelischen Schichten des Menschen, die mit frühesten Erlebniswelten korrespondieren, vor dem Einsetzen frühkindlicher Amnesie.
Ausgehend von den ältesten indischen Schriften und ihrer intuitiv-poetischen Psychologie werden vergleichend auch andere Mythologien zu Rate gezogen und nach eben diesem Muster entschlüsselt. Sowohl ägyptische, babylonische, germanische, griechische und mittelamerikanische Schöpfungsmythen als auch Höhlenzeichnungen des Jungpaläolithikums sind witzig eingearbeitet und machen das Buch zu einem interessanten Lesestoff für alle, die an Mythen interessiert sind.
Ein sehr ausführliches Literaturverzeichnis zu den Themen Mythologie und Entwicklungspsychologie runden dieses gelungene Buch ab.