Mittwoch, 8. September 2010

Lussi, Kurt, Im Reich der Geister und tanzenden Hexe, AT Verlag: Aarau 2002, Festband, SU,
336 S., ISBN 3-85502-722-6; 28,90 €.


Die Ethnologen, oder in diesem Falle besser: Völkerkundler beschäftigen sich ja bekanntlich mit den Sitten und Gebräuchen der Völker. Sagt ja schon der Name. Im Besonderen können sie sich mit der Religion von Ethnien beschäftigen. Diese Spezialisierung ist bei Forschern und Rezipienten weithin beliebt; besonders gut gehen dabei die Einblicke in so ferne Realitäten wie etwa die Gebräuche der Einwohner Papua-Neuguineas, tibetischer Lamas oder indischer Sadhus. Je exotischer, desto besser. Und dank vorangaloppierender Globalisierung ist sicher bald jedwede Information zu religiösen Gebräuchen auch entferntest lebender Menschen verfügbar. Und damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch Mitmenschen, die mit mehr oder weniger entsprechenden Methoden die Seminarlandschaft bereichern. Soweit bekannt.
Kontrapunkt und Ergänzung zu einer solchen Entwicklung wäre in diesem Bild die Besinnung auf die religiösen Traditionen, die im heimatlichen Gebiet noch das Leben der Groß- bzw. Urgroßeltern prägten. Diese scheint, wenn man dem Autor des hier vorgestellten Werkes glaubt, langsam in Vergessenheit zu geraten.
Gegen eine derartige amnestische Tendenz schreibt und arbeitet also Kurt Lussi an. Der Mann ist Konservator für religiöse Volkskunde am Historischen Museum Luzern mit dem Forschungsschwerpunkt auf der Praxis des Volksglaubens und der Volksmedizin im Alpenraum. Und damit sind es besonders die magisch-religiösen Bezugspunkte des alpinen Lebensraums, die in diesem Werk referiert werden. Nicht nur in diesen Breiten mischt sich seit den Zeiten der Christianisierung die althergebrachte magische Selbsthilfe mit den Formen institutionalisierter Frömmigkeit auf eine Art und Weise, die unter Umständen auch heute noch angetroffen werden kann. Dabei handelt es sich keineswegs um elaborierte Systeme im Stile der frühneuzeitlichen Gremoirien, sondern um den magischen Pragmatismus unserer ländlich lebenden Vorfahren. Und das Leben dieser Ahnen schien durchaus seine bedrohlichen Momente gehabt zu haben, vor denen man sich schützen musste. Zeugen einer unter Umständen bedrohlichen anderen Welt können exponierte Steine, Bäume, aufgestellte Kreuze oder verlassene Kapellen an unwegsamen Stellen sein.
Da gilt es unruhige, weil unerlöste Tote mit Abwehrzaubern fernzuhalten oder aber sich der Hilfe gutartiger an Geisterwegen in Bäumen lebender Hexen zu versichern. Nachts können sich Geister als Albdrücke einstellen, wie das aufsitzende Töggeli, das den Bedrängten würgt. Aber es gibt Schutz. Krankheiten oder hausgebundene Unruhegeister werden mit geweihten Pflöcken in Balken eingeschlossen, fratzenhafte Fensterladenhalter hindern umherschweifende Wesen am Eintritt in ein Haus. Denselben Schutz bieten Kuh- oder Ochsenschädel dem Vieh, wenn sie über Stalltüren angebracht sind. Als Verteidigungsmaßnahmen spielen geweihte Wasser, ebensolche Palmwedel, Kompositamulette mit christlichen Versatzstücken wie Kleinstreliquien oder Mitbringseln von Pilgerreisen, der Schutz durch Heiligenmedaillen, magische Zeichen an Türen und Wänden sowie vieles andere, das im Buch kenntnisreich dargestellt ist, ein Rolle.
In weiteren ausführlichen Kapiteln beschäftigt sich der Autor mit Exorzismen und Heilungen, den Vorstellungen um den Hexensabbat, mit der Wächterfunktion von Kobolden und Zwergen und, besonders aufschlussreich, dem Ursprung so verbreiteter Feste wie dem altirischen Halloween, zu dem es auch mitteleuropäische Pendants gibt. Viele dieser Feste, die heute fast sinnentleert in der Event-Kultur aufgegangen sind, haben einen magisch-religiösen Hintergrund. Diese Ursprünge werden ausführlich dargestellt. Auch die Rolle von Hunden als Begleiter der Türst (des Totenheeres) oder die Katze als Tier der Hexen ist neben einer Unzahl weiterer Vorstellungen dokumentiert.
Die herausragende Mehrheit der beispielhaften Geschichten in diesem Buch stammt aus den Schweizer Alpen, wobei Kurt Lussi immer wieder auch die autochthonen Traditionen nördlicher gelegener Landstriche einbezieht. In Exkursen werden zudem die Zusammenhänge zu traditionellen Weltbildern anderer Kulturen aufgezeigt (bspw. der Aborigines). Das Buch ist, neben der sehr unterhaltsamen und kenntnisreichen Fülle an vormals dominierenden ländlichen Auffassungen zu Zauber, Jenseits und Dämonen, herausragend bebildert; viele der Abbildungen geben einmalige Exponate aus der Sammlung des Autors wieder.
Ein hochwertiges dokumentarisches Wurzelwerk in einem kulturnivellierenden Konsumzeitalter.