Sonntag, 17. Januar 2010

Glaser, Eckehard, Wissen verpflichtet, Herbert Utz Verlag: München 1999, 180 S., PB,
ISBN 3-89675-528-5, 34,00 €.


Der Konstruktivismus (oder Radikale Konstruktivismus; synonym zu verwenden) hat in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland zunehmend für interessante Diskussionen bei Wissenschaftlern fast aller Fachrichtungen gesorgt. Mit dem Konstruktivismus kündigt sich ein Paradigmenwechsel im Elfenbeinturm an, der im wesentlichen die Rehabilitierung der Subjektivität auf neurobiologischer Basis und deren weitläufige Folgen zum Inhalt hat.
Der Rückzug auf eine wie auch immer geartete objektive Wirklichkeit wird damit obsolet; eine vom Beobachter unabhängige unveränderliche Realität zur Fiktion. Objektives Wissen und Gewissheit sind ebenso Termini, die bei eingehender Hinterfragung ihre Allgemeingültigkeit verlieren. Einzig die Viabilität erscheint im Konstruktivismus entscheidend für das Fortbestehen bestimmter Realitätsauffassungen; ihre Fähigkeit also, das Lebewesen und das Milieu in einem funktionierenden Gleichgewichtszustand zu halten. Durch wechselseitige Einflussnahme (Perturbationen) werden dabei immer wieder Strukturveränderungen ausgelöst, die wiederum nach viablen Lösungen hin zu einem Gleichgewicht (Äquilibration) verlangen. So wird die Fragestellung des Konstruktivismus eine epistemologische, eine Frage danach, wie wir wissen oder besser, wie wir Erkenntnis erlangen.
Damit wird die Verantwortlichkeit für das Denken und Handel dorthin verlegt, wo sie hingehört: in das Individuum selbst. Es handelt sich allerdings nicht im Sinne des Solipsismus um das Werk eines isolierten Wesens, sondern findet in Strukturkoppelung mit anderen Artgenossen statt. Eine der konstruktivistischen Grundüberlegungen ist demzufolge, dass der Andere nicht nur notwendige Voraussetzung für eine eigene Wirklichkeit und ebensolches Wissen, sondern auch für das eigene Bewusstsein ist. Das enthebt natürlich keineswegs der eigenen Verantwortung.
Weit ausgebreitet wird von Glaser erörtert, wie „Wissen“ konstruiert wird und wie der Mensch in einer Art Selbstreferenz auf der naturwissenschaftlichen Basis der Wahrnehmungsphysiologie seine Eigenwerte bildet; sich freilich dessen in den wenigsten Fällen bewusst sein muss. Ausführlich zeigt der Autor dieses menschliche Vorgehen am Beispiel der Sprache auf.
Bei entsprechender Verinnerlichung dieser Theorie wird jedes Individuum zum gleichwertigen Konstrukteur seiner Wirklichkeit, was nur mit der Aufgabe von allgemeinen Absolutheitsansprüchen einhergehen kann. Damit ist der Konstruktivismus eine dogmenfreie und prozessorientierte Theorie, die sich schwerlich auf einen Punkt bringen lässt.
Am besten lässt sich das theoretisch Gebäude vielleicht als ein auf Vernunft begründeter Relativismus beschreiben. Das aufklärerische Vernunftideal spielt so im wissenschaftlichen Gebrauch eine Rolle, da andernfalls in diesem Rahmen Disqualifikation auf dem Fuße folgen würde. In anderen Zusammenhängen muss einer praktischen Umsetzung der theoretischen Grundlagen, wie sie der Konstruktivismus bietet, keine Einschränkung wiederfahren. Ein fröhliches Experimentieren im Erschaffen von Realitäten könnte ein konstruktivistisches Angebot sein.
Dieses Werk von Eckehard Glaser hält, was es verspricht. Es ist sowohl Einführung, als auch sorgfältige Präsentation und Rezeption der „Väter“ des Konstruktivismus Paul Watzlawick, Heinz von Foerster, Erich von Glasersfeld und der Chilenen Humberto Maturana und Francisco Varela. Zu deren Werken bietet die Bibliographie gezielten Zugriff und ermöglicht so eine Vertiefung. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich mit dem Werk von Eckehard Glaser, obwohl schon 1999 erschienen, um die beste Einführung in die Gedankenwelt des Konstruktivismus handelt.