In der westlichen Geistesgeschichte findet das chinesische
I Ging seit nun rund 100 Jahren immer wieder Aufmerksamkeit in theoretischen
und praktisch orientierten Abhandlungen. 1882 übersetzte James Legge das Werk erstmalig
insgesamt ins Englische, bevor dann der Sinologe Richard Wilhelm 1924 mit
seiner Übersetzung ins Deutsche, die dann in den Folgejahren in weitere
europäische Sprachen übertragen wurde, dafür sorgte, dass das I Ging einem
breiteren Publikum im Abendland bekannt wurde. Die in schriftlichen Beiträgen
gefasste Faszination von Geistesgrößen wie Hermann Hesse oder C. G. Jung taten
ein Übriges zur Verbreitung des Werkes.
Diese Faszination besteht fort: Mittlerweile gibt es
Apps, die die Hexagramme auswerfen und eine reiche Literatur, die allerdings fast
immer dem historischen und kulturellen Kontext viel Aufmerksamkeit widmet, für
die Praxis aber wenig Innovation bereit hält. Besonders beliebt sind zudem
theoretische naturwissenschaftliche Ausgestaltungen der Komplexität der
Hexagramme in ihrer Entstehung und in ihrem Bezug zueinander. In der Mehrzahl waren
es Sinologen oder sinophile Mathematiker/ Physiker, die sich des Themas
annahmen. Das ist an sich nicht tragisch, im Gegenteil: Allein für Leser, die
sich ausschließlich für die Anwendung interessierten, wurde so eine Menge (allzu
häufig unverständlicher) Ballast mitgeschleppt.
Für dieses Weisheitsbuch, dessen Entstehung traditionell
in das dritte vorchristliche Jahrtausen verortet wird und das auf den
legendären Fu Xi zurückgehen soll, interessierte sich aber auch der von
östlichen Weisheiten angetane britische Okkultist Aleister Crowley, dessen
Lieblingsdivinationsmethode das I Ging gewesen sein soll. Dafür spricht, dass
er mit dem Liber CCXVI eigene Interpretationstexte zu den Hexagrammen verfasste
und Zeitzeugen von miterlebten Befragungen berichten.
Swami Anand Nisarg nun, der nach eigenem Bekunden
seit 20 Jahren mit dem I Ging umgeht, hat hier ein Buch veröffentlicht, das sich
ganz bewusst von dem für die Praxis beschwerlichen sinologischen und
mathematisch-physikalischen Ballast verabschiedet: Um mit dem I Ging praktische
Erfahrungen zu machen, benötigt es weder besonderer Kenntnisse der chinesischen
Geschichte noch der Sprache noch kosmologischer Theorien. Wie Crowley in seinen
Synkretismen das I Ging zu anderen magischen und mystischen Systemen in Bezug
setzte, so in diesem Werk auch der Swami, der sich, beispielsweise an der
Charakterisierung der Trigramme, deutlich in thelemitischer Tradition stehend
zeigt.
Das ziegt sich auch an seiner Erläuterung des Konfuzianismus, der sich in der klassischen Interpretation
der Hexagramme spiegelt und der laut Nisarg nicht ausschließlich auf die
Entwicklung einer höheren Moral abzielt, wie gerne gedeutet wird. Im Gegenteil,
so der Autor: In den konfuzianischen Interpretationen ist ein Schlüssel zu
einem inneren alchemistischen Vorgang zu entdecken, der den Menschen, folgt er
diesem Weg, in die nächste Stufe der Evolution zu überführen in der Lage ist.
In einem Raum-Zeit-Gefüge zeigt das I Ging also auf, wie weit der Fragende von
seinem „Wahren Willen“ entfernt ist (thelemitisch) oder wieweit er in der
Vollendung des Großen Werkes vorangeschritten ist (alchemistisch).
Trotzdem werden im vorliegenden Buch natürlich die
wichtigsten Stationen in der Entstehung und Tradierungsgeschichte gereicht;
große Namen in Verbindung mit dem I Ging, wie Shao Yung, Zhang Shi und Zhu Xi
bleiben nicht unerwähnt.
Der Autor führt kurz und fundiert in das Thema ein,
um dann relativ zügig zu verschiedenen Methoden, wie die Hexagramme zu
ermitteln sind, überzugehen. Eine Besonderheit ist die Vorstellung einer
Vorgehensweise mit vier Stäben oder Münzen, die in der Durchführung so einfach
wie die Drei-Münzen-Methode sein soll, in der Wahrscheinlichkeit von
Wandellinien aber der Komplexität der Ermittlung mithilfe von 50
Schafgarbenstengeln entsprechen soll.
Was ein Buch zum I Ging natürlich braucht, ist eine
Interpretation der 64 Hexagramme inklusive der Interpretation der jeweils sechs
Einzellinien. Das leistet Nisarg in aller gebotenen Kürze im dritten Kapitel,
bevor dann fortgeschrittene Techniken mit dem I Ging angeleitet werden.
Eine davon, die Pflaumenblüten-Numerologie (Mei Hua
Yi) nach Shao Yong (1011 – 1077), Philosoph und Mathematiker der Sung-Dynastie,
nimmt dabei einen besonderen Stellenwert und ein ganzes Kapitel ein. Anregungen
zur Etablierung einer täglichen bzw. regelmäßigen Praxis runden das Buch dann
ab.
Etwas Vorsicht ist bei der grafischen Aufbereitung des
Materials geboten: Sowohl in der Vorstellung der Trigramme als auch in der
Referenztafel zu den 64 Hexagrammen haben sich in der Darstellung der Trigramme
Fehler eingeschlichen, die allerdings den durchaus positiven Gesamteindruck des
Buches nicht schmälern, schon gar nicht die Leistung des Autors, dem ein sehr
lebendiges und praxisnahes Buch zum I Ging gelungen ist. Als Zusatzangebot,
anschließend an die Buchveröffenlichung, machte Swami Anand Nisarg die Yi Fa Society bekannt, online erreichbar, in der Anleitung und Austausch zum I Ging
und damit verbundenen Mediationen und Qi Gong-Übungen geboten werden.