Die von Jodorowsky an Ratsuchende verordneten psychomagischen Rituale wirken wie Inszenierungen aus einer surrealen Traumwelt: archaisch, schonungslos, verstörend, intim vertraut und befreiend. Die Psychomagie ist eine Form therapeutisch-magischen Theaters, von dem in nächster Zeit eventuell des Öfteren mal zu hören sein wird.
Der Schöpfer dieser speziellen therapeutischen Vorgehensweise, der Psychomagie, Alejandro Jodorowsky, ist Autor, Tarologe, Regisseur und Heiler. Er ist Chilene russisch-jüdischer Abstammung und hat, nachdem er in Mexiko gelebt hat, in Paris seine Wahlheimat gefunden.
Das vorliegende Buch, 2009 erstmalig in Spanien erschienen und nun fast zeitgleich im Deutschen und im Englischen zu haben, heißt in der englischen Übersetzung Psychomagic: The Transformative Power of Shamanic Psychotherapie. Der Bezug auf den schamanischen Charakter verschiedener psychomagischer Akte geht in der deutschen Ausgabe im Titel verloren. Im Text selbst sind die Spuren hingegen deutlich: Jodorowsky lässt sich für seine Rituale immer wieder von Zauberbücher inspirieren oder aber er schaut sich die Arbeit unterschiedlicher Heiler Südamerikas an und lernt von diesen.
Mit diesem Bezug zu schamanischen Heilungen und seinen eigenen Erfahrungen aus freudscher Psychoanalyse und Theaterinszenierung, erinnert er kraftvoll an einen wichtigen Teil heilerischer Arbeit, die in psychologischer und spiritueller Therapie allzugern nicht berücksichtigt wird: den dramatischen, den ausagierenden Akt. Und genau das ist Psychomagie.
Psychoanalytiker glauben ja, dass die Symptome des Patienten verschwinden, wenn dieser den Grund für sie kennt. Und an vielem, wenn nicht an allem, sind die Eltern schuld. Jodorowsky kommt aus dieser therapeutischen Richtung, geht aber weiter: Auch Großeltern, Urgroßeltern, Onkel und Tanten haben ihren Anteil an Symptomen, die sich im „Clan“ manifestieren und die auch die Zugehörigkeit des Einzelnen zur Familie ausdrücken. Diese Arbeit mit Familienstammbäumen ist, neben freudscher Psychoanalyse, eine weitere der Grundlagen, aus denen heraus Jodorowsky seinen psychomagischen Ansatz entwickelt hat. Begrenzende Einflüsse, dysfunktionale Identifizierungen und daraus resultierende Schwierigkeiten gilt es zu beseitigen und aufzulösen.
„Die Psychomagie ist keine wissenschaftliche Disziplin, sie ist eine künstlerische Schöpfung, die ihren Ursprung im Theater hat und darauf abzielt, im Ratsuchenden seine eigene Kreativität zu erwecken und ihn zu seinem eigenen Heiler zu machen.“ (S. 174)
Eines der Hilfsmittel psychomagischer Diagnostik, der Tarot, ist ungewöhnlich, erstaunt und ist dann doch passend: Jodorowsky hat ein Buch zum Tarot de Marseilles geschrieben, einem Deck, mit dem er seine Heilsitzungen meist eröffnet. Intuitiv und mit dreißigjähriger Erfahrung kommt er von den Karten ausgehend recht schnell zur Ursache der geschilderten Symptome und „verschreibt“ dann dem/der Ratsuchenden einen auszuführenden psychomagischen Akt.
So ist auch das Buch aufgebaut: Es beinhaltet eine Sammlung verschiedenster Problemgeschichten mit den dazugehörigen psychomagischen Ritualen. Natürlich nicht, ohne dass der Autor in den theoretischen Hintergrund zumindest kurz eingeführt hätte. Und dann geht es auch schon in die Vollen: Fotos der Eltern werden als Einlegesohlen gebraucht, Goldmünzen in Scheiden eingeführt, Gesichter mit Menstrualblut beschmiert, Urintröpfchen in Zimmerecken verteilt usw. usf. Jodorowsky ist ein Radikaler.
Inszeniert ist das Ganze, um die ursächlich unbewussten aber in ihren Auswirkungen gefühlten Unfreiheiten aufzulösen. Bei diesem Vorgehen ist eines grundsätzlich: „Der Ratsuchende folgt dem umgekehrten Weg wie in der Psychoanalyse: Statt dem Unbewussten beizubringen, die Sprache der Ratio zu sprechen, bringt er der Ratio bei, die Sprache des Unbewussten zu beherrschen, [...].“ (S. 12)
Den geistigen Hintergrund von Jodorowskys Schöpfung bildet ein hohes, ein mystisches Ideal, dem der Mensch in seiner Bewusstseinsentwicklung entgegenstrebe: Befreit von der Indoktrination und den Identifizierungen aus den Einflüssen von Gesellschaft, Kultur und Familie ist Jodorowskys Schöpfung ein mitreißendes Plädoyer für die individuelle Freiheit, zu der die Psychomagie Hilfsmittel sein kann und soll. Mehrfach bedient sich der Autor zur Untermauerung seines Ideals bei Lévi und Cagliostro, bei Hexern, Schamanen und Theosophen: Psychomagie ist eben nicht nur Psycho, sondern auch Magie. Und ein lernbares System, wie der Autor versichert.
Im Anhang des Buches beschreibt Jodorowsky die Voraussetzungen eines künftigen Psychomagiers: Er soll, bevor er mit der Erteilung psychomagischer Ratschläge beginnen kann, den Tarot üben sowie Kenner in der Geschichte der bildenden Künste, der Magie, des Schamanismus und der Kampfkünste sein. Zudem soll die seelische Empfindsamkeit durch die Lektüre großer Dichter geschult sowie eine genaue Kenntnis der psychoanalytischen Theorien erabeitet sein. Ob mit einem solchen, wenngleich anspruchsvollem Curriculum das virtuos verwobene und so angewandte Wissen von Jododrowsky wirklich lehrbar ist, sei dahingestellt.
Seine Psychomagie ist in jedem Fall ein einzigartiger, ein großer Wurf, an dem niemand vorbei gehen sollte, der sich für Bewusstseinsveränderung, spirituelle Entwicklung, psychische Heilung und Freiheit interessiert.